Missbrauch in unserer Kirche – wie konnte es soweit kommen?

von Dekan Werner Haas

Im Folgenden lesen Sie einen Aufsatz von Dekan Werner Haas, der in unserer Diözese Augsburg als Pfarrer in der Pfarreiengemeinschaft Pfronten wirkt. 

Bild: Christian Schmitt

Liebe Gläubige,

ich weiß nicht, wie es Ihnen geht bei der laufenden Berichterstattung über die Kirche und angesichts des ganzen Sumpfs, der nach und nach immer mehr ans Licht kommt?

Bei mir hat sich eine seltsame Gefühlsmischung eingestellt, die schwankt zwischen Wut, Zorn, Scham und Trauer. Jedenfalls lässt es keinen Katholiken kalt, der sich auch nur ein wenig mit seiner Kirche identifiziert und sie so einem Sturm der Kritik ausgesetzt sieht.

In einer Zeitung stand zu lesen: „Scholz warnt Kirche: Klärt auf!“ Dieser Bitte kann ich nur mit ganzem Herzen zustimmen. So schmerzlich manches ist, wir müssen als Kirche die schrecklichen Missstände und Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte genau anschauen, analysieren und die richtigen Konsequenzen ziehen. Den Opfern gilt nicht nur unser offenes Ohr – ich habe diese Woche länger mit einem Missbrauchsopfer gesprochen – sondern es geht auch darum, Hilfe zu leisten, so gut das eben möglich ist.

Jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und nicht wieder gut zu machen. Deshalb muss alles unternommen werden, auch juristisch, dass solche Verbrechen nicht mehr vorkommen. Ich befürworte ausdrücklich die Mithilfe des Staates bei der Aufarbeitung, denn dann wird aufgrund der Kriminalstatistik auch sichtbar werden, dass es sich hier um ein gewaltiges gesellschaftliches Problem handelt. Jeder 7. Erwachsene hat in seiner Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen machen müssen. Zweidrittel der Täter sind im familiären Umkreis des Opfers zu suchen.

Nach Christian Pfeiffer, Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen, gehen etwa rund 0,1 Prozent der Fälle auf katholische Priester zurück. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch ist längst widerlegt. Abgesehen davon sind rund 80 Prozent der Opfer innerhalb der Kirche männlichen Geschlechts. Die Schlussfolgerung aus dieser Zahl überlasse ich Ihnen.

Vieles überrascht, wenn man sich näher mit den Dingen beschäftigt. Derzeit bekommt man über die Leitmedien den Eindruck, dass es sich bei diesem leidvollen Thema in erster Linie um ein Problem der Kirche handelt, die in ihrer Sexualmoral nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Nein, wenn ich das schreibe, möchte ich nicht schon wieder verharmlosen und die  Verbrechen von Klerikern an Schutzbefohlenen relativieren. Das Gegenteil ist der Fall. Mir geht es gerade nicht um den Schutz der Kirche, sondern darum, dass wirklich alle Opfer Gehör finden, wo immer Missbrauch stattgefunden hat – ganz einfach deshalb, weil ich selber ein solches Opfer außerhalb der Kirche geworden bin.

Es gibt derzeit leider keinen Institutionenvergleich, aber momentan ist die katholische Kirche in Deutschland trotz aller Versäumnisse und Schwächen in einer Vorreiterrolle bei der Prävention, der Aufklärung und der Aufarbeitung dieses Skandals. Obwohl immer kritisiert wird, dass sie bei der Aufarbeitung nicht genügend tut, ist sie doch allen anderen meilenweit voraus. Dafür bin ich sehr dankbar und finde ich gut, denn wir haben mehr Verantwortung und sollten auch hinsichtlich der Moral mehr Vorbild sein innerhalb der Gesellschaft. Zudem gehört es zur DNA der Kirche, sich um das Heil der Menschen sorgen, um den Aufbau einer lebendigen Beziehung zu Gott. Beim Missbrauch durch einen Kleriker wird das geradezu auf teuflische Weise oft für immer zerstört.

Die Frage bleibt derzeit offen, wann die Hausaufgaben etwa im Bereich der Schule, im Sport, in der Kultur gemacht werden. Zum Wohle der Betroffenen ist es jedenfalls dringend notwendig, dass alle relevanten Gruppen lernen, dass Wegschauen, Vertuschen und Verleugnen der Vergangenheit angehören. Alle Opfer haben ein Recht, Anlaufstellen zu finden, wo sie ihr erlittenes Unrecht mitteilen können und ihnen Entschädigung und Hilfe angeboten wird.

Soweit ein paar Fakten, die ich recherchiert habe, die mich aber noch nicht zufrieden stellen. Denn eine Frage treibt mich seit langer Zeit um: Wie  konnte es denn auch in unserer Kirche überhaupt so weit kommen, dass selbst im heiligsten Bereich solche abscheulichen Taten geschehen konnten?

Das von der Erzdiözese München in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW), stellt fest, dass Missbrauch bis in die 50-er Jahre noch sehr streng und rigoros geahndet wurde.

In der Zeit nach dem Konzil (1962-1965) trat dann eine Wende ein. Der Umgang mit Tätern wurde nachgiebiger. Die Zeit damals forderte zu Recht eine Kirche, die barmherziger mit Sündern umgehen solle. Die Kehrseite war nun aber auch, dass man das Kirchenrecht nicht mehr so konsequent anwendete, wie es gefordert gewesen wäre.

Zudem kam in jenen Jahren Ende der 60-er noch die sexuellen Revolution hinzu, die einen historischen Wandel einläutete mit den Forderungen: Enttabuisierung aller sexuellen Themen, Toleranz und Akzeptanz von allen sexuellen Bedürfnissen der Geschlechter, sowie Befreiung von aller „bigotter Prüderie“.

Die Zeitschrift „Der Spiegel“ stellte allen Ernstes im Jahre 1970 in Frage, ob Kindesmissbrauch überhaupt Schaden anrichte. Diese Denke blieb nicht ohne Folgen auch für die Justiz. Eine Staatsrechtsreform von 1973 wertete Kindesmissbrauch nicht mehr als Verbrechen, „und zwar auf der Basis von sexualwissenschaftlichen Urteilen, die davon ausgehen, dass für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Vernehmungen wesentlich schlimmer sind, als die im Grunde harmlosen Missbrauchsfälle.“ Eine solche Einschätzung, die sich auch noch auf pseudo-wissenschaftliche Erkenntnisse beruft und ein solches Verbrechen an wehrlosen Kindern dermaßen verharmlost, macht aus heutiger Sicht einfach nur sprachlos.

Die Politik hört bekanntlich gerne auf die Wissenschaft und die Justiz. Nur so ist es zu erklären, dass eine deutsche Partei noch auf ihrem NRW-Landesparteitag im Jahre 1985 für die Straffreiheit von Sex mit Kindern plädierte. Auch das ist brutale, traurige Tatsache, die aber keineswegs die Kirche entschuldigen kann, dass sie sich in jenen bewegten Jahren auch dem damaligen Zeitgeist geöffnet hat und es jetzt ganz hart büßen muss.

Was auch noch bedacht werden muss, ist der Stand der Wissenschaft in jener Zeit. Man ging damals wirklich noch davon aus, dass etwa Pädophilie heilbar ist. Deshalb schickte man Täter häufig in eine Therapie, um sie dann wieder an anderen Orten einzusetzen. Heute wissen wir es besser.

Die Ursachen dieser krankhaften Veranlagung  liegen noch weitestgehend im Dunkeln, aber sicher ist – Stand heute – nur mit Hilfe von Medikamenten kann eine dauerhafte Verhaltenskontrolle erreicht werden.

Die Liebe versucht immer zu verstehen. Sie schlägt nicht gleich drauf und verurteilt nicht vorschnell. Bereits in der ersten Stunde des Geschichtsstudiums lernt man: Urteile nie aus deiner Zeit über Menschen aus einer anderen Zeit! Ganz einfach deshalb, weil man ihnen damit nie gerecht werden kann. Dieser Grundsatz wird derzeit bei vielen Themen nicht angewandt, selbst bei denen, die aus eigener Erfahrung noch wissen, wie schnell eine Propaganda alle in den Bann ziehen kann.

Jedenfalls bin ich bemüht zu verstehen und bin mir nicht sonderlich sicher, dass ich in jener Zeit als Personalreferent anders gehandelt hätte, wie es üblich war und den Mut gehabt hätte, gegen den Strom zu schwimmen. Die Feigheit ist bis heute bekanntlich ein weit verbreitetes Laster.

Wie immer sucht der Mensch bei schwerwiegendem Versagen Schuldige. Derzeit fliegen alle Pfeile nach Rom zu einem 94-jährigen Mann, der sich nur noch sehr mühsam äußern kann. In Josef Ratzinger, emeritierter Papst Benedikt XVI. scheint man den Sündenbock gefunden zu haben, den man brauchte. Es ist schon sehr schwer für mich zu ertragen, wie man diesen so integren Menschen und großartigen Theologen, der so vielen Menschen geholfen hat, im christlichen Glauben  Halt, Zuversicht und Trost zu finden, jetzt als Lügner und großen Vertuscher darstellt. Unfair und gemein deshalb, weil man belegen kann, dass keiner mehr für die Aufklärung des Missbrauchs getan hat, wie er.

Der Reihe nach: Papst Benedikt emeritus bekam von der Münchner Kanzlei die Aufgabe, ein 2000-seitiges Gutachten zu studieren, zu analysieren und dazu Stellung zu nehmen. Es ging dabei um seine Rolle als Erzbischof von München-Freising in der Zeit zwischen 1977 bis 1982. Allein kräftemäßig und auch aufgrund der Kürze der Zeit war er nicht mehr in der Lage, dies zu bewältigen. Ein Beraterteam von 4 Personen half ihm bei der Erstellung einer 82-seitigen Stellungnahme, denen ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen ist, indem sie fälschlicherweise berichten, dass Ratzinger an einer Sitzung vom 15. Januar 1980 nicht teilgenommen habe. Er selber wusste es nach 42 Jahren nicht mehr.

Bereits in der umfangreichen Biographie von Peter Seewald „Benedikt XVI – Ein Leben“ von 2020 ist erstaunlicherweise auf Seite 938 zu lesen, dass Erzbischof Joseph Ratzinger in der entscheidenden Sitzung im Jahre 1980 mit dabei war, als es um die die Aufnahme eines Pfarrer H. aus der Diözese Essen in München ging.

Seewalds Recherchen hatten also Ratzingers Teilnahme bereits vor Jahren offengelegt, noch ehe die mit dem Gutachten beauftragte Kanzlei diese Beteiligung der Weltöffentlichkeit als Neuheit präsentierte. Und ebenso war schon bekannt, dass es in dieser Sitzung nicht um einen Einsatz von Priester H. in der Seelsorge ging, sondern lediglich um die Frage, ob er während seiner Therapiebehandlung in einem Münchner Pfarrhaus wohnen darf. Es gibt also gar keinen ersichtlichen Grund, die Teilnahme zu bestreiten, weil bei diesem Vorgang keinem der Beteiligten etwas vorzuwerfen ist. Aus diesem Fehler bzw. Versehen eine bewusste Lüge zu stricken, wie es jetzt vielfach gemacht wurde, wird dem wirklichen Sachverhalt nicht gerecht.

Bei 3 weiteren Fällen, bei denen Missbrauchstäter wieder zum Einsatz kamen, gibt es keinen einzigen Beweis, dass Ratzinger Kenntnis von deren Taten hatte.

Erstaunlich für mich ist jetzt auch die Tatsache, dass den Nachfolgern von Ratzinger auf dem Bischofsstuhl in München viel mehr Fälle zur Last gelegt werden, welche die Medien aber kaum interessieren. Offensichtlich geht es beim Kesseltreiben gegen den emeritierten Papst vornehmlich darum, sein Lebenswerk zu zerstören, wie es sein Privatsekretär Georg Gänswein formulierte.

Folgende Fakten belegen, dass man den Falschen trifft und er getan hat, was in seiner Macht stand:

- 1999 war der damalige Präfekt der Glaubenskongregation in der Kurie fast isoliert, als er beim Thema Missbrauch als erster für einen energischen Kurswechsel eintrat und eine strenge Bestrafung der Täter forderte.

- Als Kardinal erwirkte er von Papst Johannes II. die Erlaubnis, in bestimmten Fällen von der Verjährungsfrist zu dispensieren, um auch „Altfälle“ noch bearbeiten zu können. Später schuf er Möglichkeiten, unter bestimmten Umständen Missbrauchstäter ohne Strafprozess, das heißt von Amts wegen, aus dem Klerikerstand zu entlassen. Als Papst hat er dann 384 Täter in den Laienstand versetzt.

- In seiner Meditation zum Karfreitag 2005 bringt er den großen Schmerz zum Ausdruck über die Verfehlungen derer, die in der besonderen Nachfolge stehen: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum Christus ganz zugehören sollten.“

- In seinem Hirtenbrief an die Katholiken in Irland im Jahr 2010 wird deutlich, dass es ihm wirklich um die Opfer geht und gerade nicht um den Ruf der Kirche: „Es gibt eine unangebrachte Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen, die zum Versagen  in der Anwendung  bestehender kanonischer Strafen geführt hat. Es muss dringend gehandelt werden, um diese Faktoren anzugehen, die zu so tragischen Konsequenzen im Leben  der Opfer und ihrer Familie geführt hat und das Licht des Evangeliums dermaßen verdunkelt haben, wie es nicht einmal in Jahrhunderten der Verfolgung geschehen ist.“

- Papst Benedikt mangelnde Empathie beim Thema Missbrauch vorzuwerfen ist grotesk, fällt doch bei ihm auf, dass er weniger von „Opfern“ und „Betroffenen“ spricht, als vielmehr von „Überlebenden“; weil er wusste, wie buchstäblich lebensbedrohlich und verheerend sich erlittener Missbrauch im Leben eines Menschen auswirken kann. Als Papst traf er häufig mit Opfern zusammen, hat sich deren Schicksal angehört mit ihnen gebetet, weil nur Gott selber hier Heilung und Vergebung schenken kann.

Der bekannte Kirchenrechtler Prälat Graulich resümiert: „Wer sich ohne Vorurteile mit dem Wirken von Kardinal Ratzinger/Benedikt XVI. in dieser Frage auseinandersetzt, kommt zweifellos zu dem Schluss, dass nicht nur ein großes persönliches Engagement seinerseits bestand, sondern auch ein Lernprozess, der, geprägt vom Mitgefühl für die Opfer, eine ganz neue Sensibilität im Umgang mit dem Missbrauch geschaffen hat.“

Nachdem all diese Tatsachen keine Erwähnung finden in der  allgemeinen Berichterstattung, sah ich mich gedrängt, diesen Aufsatz zu schreiben.

Danke, dass Sie ihn gelesen haben und für sich persönlich bedenken, auch wenn er natürlich auch nicht wirklich erklären kann, wie es soweit kommen konnte. Die Abgründe im Herzen eines Menschen und die Macht des Bösen werden immer ein großes Geheimnis für uns bleiben. 

23.02.2022
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